„Erbärmliches Stück Schei**e!“
Spiess-Hegglin kämpft gegen grusiges Internet-Mobbing
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Jolanda Spiess-Hegglin weiss wie sich ein Shitstorm anfühlt. Die ehemalige Zuger Politikerin musste erleben, was niemand sich wünscht: Heftigste Beleidigungen bis hin zu Morddrohungen – meist anonym im Internet! Im Konsumer erzählt die junge Mutter wie sie damit fertig wurde und warum sie heute Betroffenen helfen möchte.
„Verkriech dich in dein Loch, Lügenschlampe.“
„Dich müsste man ordentlich nageln, dann würden dir solche Ideen vergehen.“
„In der Landi gibts für Fr. 1.50 einen Strick, die beste Investition für dich.“
„Erbärmliches Stück Scheisse“
„armselige Schlampe“
„primitives Luder mit dem berühmtesten Loch der Schweiz“.
Das sind die ersten 6 Nachrichten. Von 20Plus. 20Plus steht da beim Posteingang immer, wenns wieder losgeht. Wenn der Shitstorm beginnt. Zwei dieser Nachrichten sind unter richtigem Namen geschrieben, die anderen 4 anonym. Es reicht eigentlich schon für die Überzeugung, dass mich die ganze Welt hasst und mir kein einziger Mensch glaubt.
Es läuft stets gleich ab. Beim Lesen der ersten paar Nachrichten vergesse ich zu atmen. Einen Moment lang steht die Zeit still. Dann werde ich wütend. Mein Puls rast. Inzwischen habe ich in einem Anti-Aggressionstraining gelernt, wie ich das mit dem Puls wieder in den Griff bekomme. Ich mache kurz die Augen zu und atme ganz bewusst ganz langsam, etwa 10 Sekunden lang. Dann ist mein Puls wieder im unteren Bereich. Ich kann das schon ziemlich effizient, damals im Kantonsrat machte ich diese Übung mehrmals täglich. Damals, als die Shitstorms häufig stattfanden, nach jeder hetzerischen Blick-Schlagzeile oder jeder vermeintlichen Enthüllung der Weltwoche, welche sich dann aber nicht selten als blosse Verleumdungen darstellten. Damals las ich alle Nachrichten. Und es endete nicht nur einmal mit einem Zusammenbruch. Einmal musste mir ein Arzt Beruhigungsmittel bringen. Ich war ein ganzes Jahr lang arbeitsunfähig, weil sich bei mir mehrere Traumatisierungen überschnitten haben. Es hätte sich damals niemand wundern dürfen, wenn ich mir Gewalt angetan hätte.
Heute lese ich das Zeug nicht mehr. Also, nicht mehr sofort. Ich mache dies ein paar Tage später. Aber heute ist es ohnehin nicht mehr so schlimm. Die Wutbürger haben nun begriffen, dass es strafbar ist, jemanden zu verleumden oder zu bedrohen und sie mit einer Anzeige rechnen müssen. Andererseits habe ich mir ein bunkerdickes Fell zugelegt. Ich bin nun shitstormresistent und in der Lage, anderen, welche vergessen zu atmen, zu helfen. Irina hat dies auch so erlebt, Irina Studhalter. Auch sie bekam Vergewaltigungsandrohungen aus ganz Europa. Auch sie wurde zur Zielscheibe von Groll, unerklärlicher Hetzjagd und eben, das wohl Schlimmste für weibliche SocialMedia-Userinnen, zu einem Objekt der sexuellen Frustration.
Wir fragten uns: Was haben wir falsch gemacht? Die Antwort ist: nichts. Das Problem liegt in der Anonymität des Internets.
Und die Tatsache, dass einzelne Internet-Nutzer online ihrem Hass freien Lauf lassen und keine Grenzen kennen. Wir erholten uns von den Verletzungen und hatten das Bedürfnis, Grenzen zu setzen. Und vor allem: zu helfen. Im Oktober 2016 gründeten wir den Verein #NetzCourage – the hatespeech ambulance. Ein Verein, welcher uns als Instrument dient, den Internet-Hass zu thematisieren und Betroffenen Hilfe anzubieten. Seit der Gründung begleiten wir vorwiegend junge Frauen der Öffentlichkeit, welche diese verbale Gewalt ebenfalls unzensiert zu Gesicht bekommen. Darunter bekannte Jungpolitikerinnen, Autorinnen, Aktivistinnen, aber auch ganz unbekannte Menschen.
Wir sichten Kommentare, Nachrichten und Mails, Konfrontieren die Täter mit den Verletzungen und schreiben Strafanzeigen, meistens wegen Ehrverletzungen und Gewaltandrohungen. Für uns ist wichtig, dass die Hilfe von #NetzCourage für Betroffene kostenlos ist und bleibt. Diese Arbeit machen wir bis jetzt ehrenamtlich mit der Gewissheit, dass wir noch deutlich mehr machen könnten und erreichen müssen. Wir bieten Workshops und Referate an für Organisationen mit Bewältigungsstrategien und ein Kurs für Schüler*innen ist in Planung. Ausserdem würden wir gerne eine Onlinekampagne umsetzen, um die breite Öffentlichkeit aufzuklären. Denn der Ratschlag „Schliesse doch dein Facebook-Konto, wenn du es nicht ertragen kannst!“ löst kein Problem.
Über die Finanzierung von #NetzCourage haben wir uns noch wenig Gedanken gemacht. Ideen dazu und Spenden sind bei uns herzlich willkommen. Lieben Dank! #NetzCourage – the hatespeech ambulance / www.netzcourage.ch
Mehr zum Thema Internet-Mobbing lesen Sie im neuen Konsumer (Ausgabe 06/17) – erhältlich hier!